
Die Zukunft der Innenstädte: Bunt, anders und mutig planen
26. Mai 2021 | digital.talk NRW
Der Marktplatz war früher das unumstrittene Zentrum einer Stadt und gleichsam Kristallisationspunkt für das, was wir Innenstadt nennen. Er steht für eine Symbiose aus Wohnen, Leben, Arbeiten und Geld verdienen. Doch manches hat sich gewandelt, und die Bürger spüren es täglich: Die Innenstadt ist nicht mehr das, was sie mal war. Was sind die Ursachen, und was kann man tun? Für Gastgeber Dr. Mark Speich, Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales, ein „Zukunftsthema, das uns fundamental herausfordert und das die Landesregierung erkannt hat“ und das die Pandemie noch schärfer ins Bewusstsein gerückt hat. Ein Thema, das einen langen Atem verlangt und über eine Legislaturperiode hinausgeht.
„Man darf Innenstädte auch mal bunt planen, man darf sie auch anders planen, man darf sie auch mutig planen.“ (Ina Scharrenbach)
Ina Scharrenbach, Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen, stellte vor, was die Landesregierung unternimmt, um die Innenstädte des Landes im 21. Jahrhundert zu entwickeln. Im Zentrum steht ein landeseigener Innenstadtfonds, der zunähst mit 70 Mio. Euro ausgestattet ist. Er umfasst vier Interventionsfelder. Erstens: Die Kommunen haben im Rahmen eines Verfügungsfonds die Möglichkeit, leerstehende Ladenlokale vorübergehend anzumieten. Dies soll neue Nutzungen etablieren und kleinteiligen Leerständen entgegenwirken. Zweitens: Die aktuell von Filialschließungen großer Warenhäuser betroffenen Städte und Gemeinden sollen gestärkt werden, um durch die Konzentration von Immobilien-Knowhow gegenüber den Eigentümern auf Augenhöhe agieren und Nachnutzungsperspektiven entwickeln zu können. Drittens: Leerstehende Einzelhandelsimmobilien werden oft Gegenstand von Immobilienspekulationen. Den Kommunen soll ein Zwischenerwerb von Gebäuden ermöglicht werden, um die Verfügungsgewalt über die Objekte zu erlangen. Und schließlich: In Folge von massivem Leerstand ist ganz konkret zu prüfen und zu entscheiden, ob die Konzentration von Handelslagen erforderlich ist und, wenn ja, wo diese räumlich stattfinden soll. Hier sollen Beratungs- und Planungsangebote helfen, ein Zentrenmanagement anzustoßen und den Aufbau eines Verfügungsfonds vorzubereiten.
Ministerin Scharrenbach zeigte sich erfreut, dass der Landtag kürzlich weitere 30 Mio. Euro für den Fonds bewilligt hat. Die Frist für die Vorlage der Förderanträge für das „Sofortprogramm Innenstadt“ wird nun auf den 30. April 2021 verlängert, um der guten Resonanz Rechnung zu tragen. Das Sofortprogramm ist vorausschauend konzipiert und erlaubt den Städten und Gemeinden aktives Handeln für die eigene Innenstadt. Förderanträge für das „Sofortprogramm Innenstadt 2020“ können bei der jeweils zuständigen Bezirksregierung gestellt werden. Aber, so die Ministerin, nur mit Geld gelingt es nicht, den Marktplatz des 21. Jahrhunderts zu bauen. Da jede Stadt einzigartig ist, braucht es auch Ideen, um diese Einzigartigkeit von der Gegenwart in die Zukunft zu bringen. Im Sommer 2020 startete das Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen unter den 396 Städten und Gemeinden eine Kommunalumfrage über die Zukunft der Innenstädte und Zentren.
Die Ministerin wünscht sich vor allem eines: Stadtplanung muss mutig sein. Europäische Städte sind historisch gewachsen, jede Generation hat ihren Fußabdruck hinterlassen. Wir müssen ebenfalls dazu in der Lage sein. Doch Umnutzungen dauern sehr lange, und es sind viele Vorschriften zu beachten. Um die Nutzungen von morgen zu gestalten, braucht es mehr Experimentierfelder. Die Landesregierung möchte im Bau- und Planungsrecht ihren Beitrag leisten, um Vorschriften zu vereinfachen und entsprechende Gesetzesänderungen einbringen. Mehr Freiheit ist aber auch im Bundesrecht nötig. Nur mit Landesrecht kommen im föderalen Aufbau nicht weiter.
Sven Lohmeyer, Projektleiter für co-kreative Stadtentwicklung bei urbanista in Hamburg, beschäftigt sich professionell mit Innenstadtstransformation, Stadtentwicklung und urbanen Zukunftsstrategien. Im digital.talk stellte er Thesen und Beobachtungen aus Projekten vor. Wo es früher in den Innenstädten lebendige Nachbarschaften gab, die Arbeiten, Wohnen, Produktion, Kultur und Teilhabe miteinander verbanden, findet man heute nur noch Handel und Büronutzung. Die historische Funktionsmischung hat sich verschoben. Manche Innenstädte sind ökonomisch unter die Räder gekommen, teilweise auch durch bewusste Entscheidung, die eine Monokultur begünstigt haben. Allgemein, so Lohmeyer, würden die Zukunftsaufgaben unterschätzt. Digitalisierung, klimagerechter Stadtumbau und Neuorganisation der Logistik sind dicke Bretter. Das entscheidende Manko: Milieus treffen sich teilweise nicht mehr. Deshalb ist es vor allem wichtig, Räume zu schaffen, wo sich Menschen wieder begegnen können und wollen. Dies ist der Schlüssel für Zusammenhalt. Die Innenstadt hat eine Zukunft, wenn sie wieder ein Ort wird, wo man sich gerne aufhält und verweilt. Das kann tagsüber anders funktionieren als abends. Lohmeyer ist sich sicher: Das deutsche Städtesystem wird sich neu sortieren, dabei wird es Gewinner und Verlierer heben. Die Chance: Lösungen können vor Ort auf kommunaler Ebene entwickelt werden, etwa wenn es gilt, neue Akteure in die Zentren zu holen. Dort wird bereits innovativ diskutiert, doch noch erreichen manche Ideen nicht die politische Diskussion. Eine Stärkung des Zentrums heißt vielleicht auch, andere Bereiche zu schwächen. Stadtentwicklung beschränkt sich allzu oft nur auf die reine Gestaltung. Zudem werden Veränderungen durch eines hohes Mietpreisniveau erschwert. Ein Blick nach Skandinavien zeigt, was gute strategische Konzepte und sehr scharfe und ambitionierte Ziele bewirken können. Die dortigen Planungsbüros bezeichnete er als Champions League vor allem im Hinblick auf die Schaffung von Lebensqualität im öffentlichen Raum.
„Wem gehört die Stadt? Wer nicht antworten kann „allen“, der hat ein Problem.“ (Markus Lewe)
Markus Lewe, Oberbürgermeister von Münster, erinnerte daran, dass es bei der Stadtentwicklung vor allem auch um die Frage von Identität gehe und um das Gefühl, dazugehören zu können, und darum, Zusammenhalt im und durch öffentlichen Raum zu gestalten. Die Stadt sollte ein Ort sein, der jedem gehört. Entscheidend ist für Lewe, eine Balance zwischen handels- und gemeinwohlorientiertem Nutzen herzustellen. Stadt lebt von Diversität, Urbanität, Vielfalt. Deshalb müssen Städteplaner Geld von Wert unterscheiden, etwa wenn die Frage ansteht auf einer Freifläche einen Platz anzulegen oder ein Einkaufszentrum zu bauen. Als positives Beispiel in Münster nannte Lewe den Hafen, der langsam von einem Industriehafen in eine Kulturmeile umgewandelt wurde. Die Veränderung wurde langsam und behutsam vollzogen. Heute gibt es im Hafen von Münster Büros, Kultur, Gastronomie, einen Ruderverein. Die lange Kaimauer wurde zur Sitzbank, auf der die unterschiedlichsten Menschen Platz nehmen. Lewe zeigte sich dankbar für die von Ministerin Scharrenbach vorgestellten Konzepte des Landes Nordrhein-Westfalen, die die Probleme im Einzelhandel und bei Leerständen abmildern helfen. Flankierend profitieren Städte von modernen Mobilitätskonzepten wie mobil.nrw und der Steigerung von Lebensqualität durch Reduzierung des Autoverkehrs.
Dr. Christopher Schmitt, Stadtrat und Vorstand für Wirtschaftsförderung, Gelsendienste, Recht und Ordnung sowie Bürgerservice der Stadt Gelsenkirchen zeichnete nach, wie der Handel in seiner Stadt mit ihren zwei innerstädtischen Zentren seit den 1960er Jahren in den Abwärtssog des industriellen Schundes gezogen wurde. Ein fortwährender Zuzug von Menschen mit geringer Kaufkraft habe den Trend begleitet. Der durch Corona nochmals gepushte Online-Handel hat die Situation verschärft. Der inhabergeführte Handel wird, so Schmitt, immer mehr die Ausnahme, Discoutketten dominieren. Deshalb ist es das vordringliche Ziel, Einzelhandel und Gastronomie zu stützen, beispielsweise durch Werbegemeinschaften, Citymangement, Veranstaltungen im öffentlichen Raum oder Wochen- und Feierabendmärkte, Pop-up-Biergärten und fahrscheinfreie Samstage. Daneben lassen ich Investitionen Privater stimulieren und steuern und integrierte Entwicklungskonzepte unter Bürgerbeteiligung aufstellen, um konkret über neue neue Nutzungmixe in den Zentren nachzudenken. Auch urbane Produktion sollte sich wieder in der City ansiedeln und kann dazu beitragen, den Kaufkraftschwund zu stoppen. Aus Sicht von Schmitt gibt es keinen Mangel an Ideen und Visionen, aber auch kein Patentrezept. Der Schlüssel ist, passgenaue Löungen vor Ort mit den Akteuren zu entwickeln. Der Fonds aus dem Hause Scharrenbach ist seiner Ansicht nach ein hilfreiches instrument, das es auszuweiten gilt. Richtig sei auch, die rechtlichen Rahmenbedingungen für Vorkaufsrechte und Nutzungsänderungen möglichst flexibel zu gestalten, um die Transformation voranzubringen.
Michael Radau, Präsident des Handelsverbandes NRW, stellte fest: Der Handel ist durch Corona unverschuldet in eine extreme Krisensituation geraten. Die Hilfs- und Stützmaßnahmen diverser Corona-Pakete waren wichtig, haben aber auch ungleichmäßig gewirkt. Sorgen macht er sich über die Zeit nach Corona. Kleinere und mittlere Unternehmen werden für den Neustart Kreditmittel benötigen. Diese werden aber schwer zu bekommen sein, da die zur Stützung erhaltenen KfW-Kreditmittel den Überschuldungsgrad hochtreiben. An die Politik richtete er die Bitte, hier einen Schuldenschnitt von mindestens 40 Prozent zu machen, da sonst massive Insolvenzen zu befürchten seien. Viele Unterehmen im Non-food-Bereich werden, so Radau, davon betroffen sein. Ein kurzfristiges Bestreben müsse daher sein, den Unternehmen mit Zukunftsperspektive auch einen Neustart zu ermöglichen und Arbeitslosigkeit vorzubeugen.
Durch die Diskussion führte der Düsseldorfer Journalist und Autor Dr. Martin Roos.