Senior Researcher, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Mannheim
Dr. Mathias Dolls stellte in seinem Vortrag zu den Gestaltungsmöglichkeiten und Wirkungen einer Europäischen Arbeitslosenversicherung die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit vor. Sein Vortrag bezog sich auf eine durch das Europäische Parlament und die Kommission in Auftrag gegeben Studie, die sich mit den Vor- und Nachteilen einer europäischen Arbeitslosenversicherung als automatischem Stabilisator beschäftigt. (Dolls, Mathias/ Fuest, Clemens/ Neumann, Dirk/ Peichl, Andreas/ Ungerer, Martin (2014): Cost of Non-Europe report - Common unemployment insurance scheme for the euro area. Mannheim: Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Online unter: http://www.zew.de/de/publikationen/7588 (Stand: 25.11.2014)) Dolls sagte, er wolle verdeutlichen, welche wirtschaftlichen Auswirkungen ein wirksamer automatischer Stabilisators haben könne und wie dieser die europäische Konjunkturlage während der Krisenjahre hätte beeinflussen können. Im Fokus stehe dabei die stabilisierende Wirkung auf der europäischen Ebene, die die Mitgliedstaaten über zyklische Schwankungen hinweg absichere.
In der Diskussion um das Thema tauche immer wieder die Befürchtung auf, dass ein solches Instrument zu dauerhafter Umverteilung unter den Mitgliedstaaten führe. Es sei deshalb ein wichtiges Kriterium für einen neuen Stabilisator, dass nicht einzelne wirtschaftlich stabilere Länder für die schwächeren Arbeitsmärkte der EU dauerhaft aufkämen, während andere Mitgliedstaaten ausschließlich als Profiteure dastünden. Außerdem ergäben sich Anreizprobleme auf nationaler Ebene. Strukturelle Reformen beispielsweise im Bereich der nationalen Arbeitsmärkte dürften nicht durch die europäische Unterstützung leiden. Auf die nähere Problembeschreibung wolle er später bei den Gestaltungsmöglichkeiten noch genauer eingehen.
Gründe für eine Europäische Arbeitslosenversicherung
Die tiefe Krise der letzten Jahre habe deutlich gezeigt, wie überfällig und notwendig eine fiskalische Integration sei. Die bereits existierenden automatischen Stabilisatoren seien nicht mehr wirksam, weshalb die zentralen Akteure nach und nach den Zugang zu den Märkten verloren hätten. Außerdem würden bisherige Mechanismen nicht oder nur unzureichend auf der europäischen Ebene ansetzen. Ein zentraler Stabilisator hingegen könne eine Lösung für das bestehende Kompetenzdurcheinander zwischen der EU und den Nationalstaaten bieten. Der fiskalische Mechanismus ermögliche es, asymmetrische Schocks aufzufangen, wovon jeder Mitgliedstaat profitiere und nicht nur einige wenige.
Das Van Rompuy-Papier beschreibe den Fahrplan für die weitere Integration der EU zu einer “echten Wirtschafts- und Währungsunion”. (Van Rompuy, Herman (2012): Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion. Straßburg. Online unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/134206.pdf (Stand 25.11.2014)) Bereits im Van Rompuy-Papier werde eindeutig ein gemeinsamer Stabilisator gefordert, um die Fiskalkapazität der Währungsunion zu erhöhen und gleichzeitig die Sicherheit gegenüber asymmetrischen Schocks zu vergrößern. Länderspezifische Schocks sollten in diesem Sinn anteilig durch die zentrale Ebene gedämpft und ausgeglichen werden. Die bisher verwendeten ökonomischen Ausgleichmechanismen seien wegen des geringen Ausmaßes an Arbeitskräftemobilität und wegen struktureller Hindernisse für die Preisflexibilität weniger effektiv als in anderen Währungsunionen. Hingegen könne die Dämpfung asymmetrischer Schocks auf zentraler Ebene durch fiskalische Solidarität eine effektive Lösung bieten, da sie über ökonomische Zyklen hinweg reiche und außerdem die ökonomische Belastbarkeit und Ausfallsicherheit der europäischen Währungsunion verbessere. Die Elemente der fiskalischen Risikoteilung könnten und sollten so gestaltet werden, dass es nicht zu permanenten Transferzahlungen zwischen den Mitgliedstaaten komme. Außerdem dürfe die Risikominderung nicht dazu führen, nationale Anreize für strukturelle Reformen abzuschwächen.
Mögliche Charakteristika eines Arbeitslosenversicherungssystems innerhalb der Europäischen Währungsunion (WWU-AV)
Dolls unterschied grundsätzlich zwei Typen einer Europäischen Arbeitslosenversicherung: eine Basisversicherung und die Erweiterungsvariante, die allerdings noch auf vielfältige Weise variiert und kombiniert werden könnten. Die verschiedenen Ansätze unterschieden sich vor allem im Versicherungsumfang. Das europäische Instrument könne nationale Systeme entweder (anteilig) ersetzen oder aber diese ergänzen. Die Basisversicherung garantiere ein Mindestniveau und ersetze dadurch zum Teil die Leistungen der nationalen Arbeitslosenversicherung. Da prinzipiell jeder Mitgliedsstaat das Mindestniveau erweitern könne, lasse dieses System sehr viel Raum für nationalstaatliche Gestaltungsmöglichkeiten. Es obliege also weiterhin den Ländern selbst, wie großzügig der Versicherungsumfang letztendlich sei. Bei der Variante der erweiterten Beihilfe erhöhe die zentrale Ebene die nationalen Leistungen, so wie in den USA praktiziert, wo die Grundversicherung von den Bundesstaaten getragen werde, während die nationale Ebene in anhaltenden Rezessionen ergänzend aktiv sei. Dieses Vorgehen habe man in der jüngsten Wirtschaftskrise beobachten können, als das Federal Reserve System die in den Bundesstaaten bestehenden Auszahlungszeiträume der Arbeitslosenversicherung deutlich verlängert habe.
Auch die Finanzierungsseite lasse viele Variationen zu. Der meistdiskutierte Vorschlag sei sicherlich, die Europäische Arbeitslosenversicherung ähnlich wie ihre nationalen Pendants aus regulären Sozialversicherungsbeiträgen zu bestreiten. Dabei könne entweder für alle Staaten der gleiche Beitrag eingeführt werden, oder die Beitragshöhe könne sich nach den Transferzahlungen innerhalb der einzelnen Staaten richten. Ein solcher Beitrag könne über die Zeit konstant sein, oder sich nach den Transfers der jeweils letzten Periode richten, um flexibel auf wirtschaftliche Entwicklungen zu reagieren (experience rating, Clawback Mechanismen; Die Bezeichnung Clawback bezieht sich auf ein Rückforderungsrecht für bereits geleistete Zahlungen im Falle besonderer Umstände, die vertraglich näher festgelegt werden.).
Als letzte Variationsmöglichkeit führte Dolls die Dauer der Zuschusszahlungen an. Eine Möglichkeit bestehe in der permanenten Zahlung von Leistungen aus den europäischen Mitteln, die einen Teil der nationalen Arbeitslosenversicherung dauerhaft ersetzen würden. Auf der anderen Seite könne die europäische Versicherung so ausgestaltet werden, dass sie nur dann einspringe, wenn in den Mitgliedsländern festgelegte Kennziffern überschritten würden (trigger based). Die WWU-AV springe dann nur in extremen ökonomischen Krisen ein.
Die Basisversicherung entfalte besonders zeitnah ihre automatisch stabilisierende Wirkung. Ihr Nachteil sei allerdings, dass ihre stabilisierende Wirkung während lang anhaltenden Krisen mit der Zeit schwächer werde. Auf die Basisleistungen der WWU-AV könne jedes nationale System ergänzend aufbauen. Insofern biete dieser Weg besonders großen Spielraum für nationale Modifikationen und er führe nicht per se zu zwischenstaatlicher Umverteilung. Die Zuschüsse richteten sich gezielt auf zyklische Arbeitslosigkeit. Was die Moral-Hazard-Problematik angehe, so trügen die Mitgliedstaaten weiterhin selbst die Kosten für die Langzeitarbeitslosigkeit, so dass Anreize für strukturelle Reformen zur Verringerung der Arbeitslosigkeit unverändert blieben (Der Begriff moral hazard „beschreibt allgemein das Risiko, dass der Abschluss eines Vertrags bzw. die Verabschiedung eines Gesetzes das Verhalten einer Partei insofern beeinflusst, dass diese sich risikofreudiger bzw. konsumfreudiger verhält, als dies ohne einen solchen Kontrakt bzw. ein solches Gesetz der Fall gewesen wäre.“ (Gabler Versicherungslexikon. Online unter: http://www.versicherungsmagazin.de/Definition/33459/moral-hazard-v.html (Stand: 25.11.2014).). Fraglich sei bei dieser Ausgestaltung, ob für Regierungen der Anreiz groß genug bleibe, eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Zudem bestehe die Gefahr von Manipulationen, um die Zahl der jeweiligen nationalen WWU-AV Empfänger zu steigern.
Bei der Variante, die europäische Versicherung als Zusatzleistung (extended benefits) auszugestalten, erfolgten die Zahlungen der europäischen Ebene entweder als Ergänzung zu der nationalen Arbeitslosenversicherung oder setzten erst dann ein, wenn die nationalen Zahlungen aufhörten. Der stabilisierende Effekt erfolge dann besonders in anhaltenden Krisen und wirke gegen Langzeitarbeitslosigkeit. Wenn die europäischen Zusatzleistungen aber auch strukturelle Arbeitslosigkeit abdeckten, bestehe ein wesentlich höheres Risiko, dass es zu einer permanenten Umverteilung komme und diverse Moral-Hazard-Probleme entstünden. Die Kosten für Langzeitarbeitslosigkeit würden zum Teil - im schlechtesten Fall vollständig - aus Gemeinschaftsmitteln getragen. Das könnte Anreize für nationale Regierungen schaffen, die eigene Arbeitslosenversicherung zu kürzen, da dann europäische Versicherung schneller eingreife. Auch in dieser Version bestehe die Gefahr einer Manipulation mit dem Ziel, die Zahl der nationalen Empfänger der WWU-AV künstlich in die Höhe zu treiben.
Als letzte Variante könne die Versicherung in Form von bedingte Zuschüssen (contingent benefits) gezahlt werden. Ein solcher Zuschuss werde nur dann aktiviert, wenn die Arbeitslosigkeit eine festgelegte Schwelle überschreite. Der stabilisierende Effekt greife in einem solchen System besonders in schweren Krisen. Ob es zu anhaltenden Umverteilungseffekten komme, hänge vor allem von der Höhe der gewählten Aktivierungsschwellen ab. Außerdem komme es darauf an, ob sich die Zahlungen nur auf Kurzzeit- oder auch auf Langzeitarbeitslosigkeit bezögen. Je nach entsprechender Ausgestaltung ergäben sich die bereits vorher beschriebenen Probleme.
Grundannahmen, Messbasis und zentrale Ergebnisse der Simulationsstudie
Dolls stellte ein Simulationsmodell vor, in dem die WWU-AV eine Lohnausfallrate von 50% des bisherigen Brutto-Einkommens decke. Das System sei so konzipiert, dass es über die Gesamtlaufzeit von 2000 bis 2013 auf europäischer Ebene aufkommensneutral sei. Deshalb könne die Simulation auch nur im Nachhinein erfolgen, da Aufkommensneutralität nicht prognostiziert werden könne. Auch wenn das System über den Gesamtzeitraum aufkommensneutral sei, bestehe durchaus die Möglichkeit, dass in einzelnen Jahren ein Defizit angesammelt werde. Das Simulationsmodell könne trotz der zeitlichen Verzögerung zeigen, wie sich die finanzielle Situation in Europa mit einer bestehenden Europäischen Arbeitslosenversicherung entwickelt hätte. Nicht berücksichtigt würden wirtschaftliche Veränderungen, die sich durch die Einführung der Versicherung ergeben hätten. Die Simulation gehe von einer Beitragszahlung in Höhe von 1,6 % der Lohnsteuer aller Erwerbseinkommen aus. Für die WWU-AV Zuschüsse qualifizierten sich alle Arbeitslose, die ein Einkommen in der Vergangenheit nachweisen könnten. Die Auszahlungsdauer betrage bis zu zwölf Monate. Während des gesamten Untersuchungszeitraums habe die Versicherungsleistung auf europäischer Ebene ein durchschnittliches Volumen von 40 Milliarden Euro pro Jahr erreicht.
Abbildung 5 stelle den Anteil der Arbeitslosigkeit dar, der durch die Leistungen der Europäischen Arbeitslosenversicherung (WWU-AV bzw. auf englisch EMU-UI) abgedeckt werde. Die Arbeitslosenquote (blau) variiere innerhalb der EU stark über die Zeit, wie die gewählten Beispiele zeigten. Während in Deutschland zu Beginn ein hohes Niveau der Arbeitslosigkeit herrschte, welches allerdings ab 2005 stetig sinke, lasse sich in den anderen drei Ländern ein deutlicher Anstieg ab 2008 als Reaktion auf die Krise konstatieren. Die in orange dargestellte coverage ratio, d.h. der Anteil der Kurzzeit-Arbeitslosen an allen Arbeitslosen und damit der Anteil der Arbeitslosen, die von der europäischen Versicherung abgedeckt würden, visualisiere ein zentrales Problem der Basisversicherung. Während sie zwar kurzzeitig eine stabilisierende Wirkung entfalte, schaffe sie keine Abhilfe bei der Langzeitarbeitslosigkeit. Da die Zahlungen nach 12 Monaten endeten nehme auch die stabilisierende Wirkung in den besonders betroffenen Ländern mit der Zeit immer weiter ab.
Abbildung 6 zeige die durchschnittlichen jährlichen Netto-Transfers (als Anteil am nationalen Bruttoinlandsprodukt) zwischen den einzelnen Euro-Mitgliedstaaten und der Europäischen Arbeitslosenversicherung im Simulationszeitraum 2000-2013. Bei den net contributors überstiegen die nationalen Beitragszahlungen die empfangenen Transfers an die nationalen Arbeitslosen, bei den net recipients verhalte es sich umgekehrt. Über den Simulationszeitraum ergebe sich eine Spanne von -0,5% des Bruttoinlandsproduktes beim größten net recipient Spanien bis zu +0,4% bei den Niederlanden als größtem net contributor. Eines der zentralen Ergebnisse dieser Simulation sei die Feststellung, dass die Mehrzahl der Mitgliedstaaten in manchen Jahren zu den Netto-Beitragszahlern und in anderen Jahren zu den Netto-Empfängern gehört habe (vgl. die jeweilige nationale Min/Max-Spanne). Es habe lediglich fünf Ausnahmen gegeben: Österreich und die Niederlande seinen in der Simulation durchgängig Netto-Beitragszahler und Spanien, Lettland und Frankreich durchgehend Netto-Empfänger gewesen.
Als zentrales Ergebnis hinsichtlich der Stabilisierungswirkung stellte Dolls heraus, dass durch das europäische System im Jahr 2009 eine signifikante Stabilisierung hätte erzielt werden können. Nach der Simulation wären in diesem Jahr in der Eurozone 36% des gesamten Einkommensverlustes durch die europäische Versicherung aufgefangen worden. Möglich würde eine solche Wirkung allerdings nur, wenn das System die Möglichkeit beinhalte, Defizite anzuhäufen. Eine Aufkommensneutralität werde nur über den Gesamtzeitraum erzielt. Nur so könne effektiv auf Schocks reagiert werden, wie Abbildung 7 am Beispiel von fünf Ländern zeige, die alle sehr stark von der Krise betroffen gewesen seien. Allerdings zeige sich hier abermals, wie sehr der stabilisierende Effekt abnehme, je länger die Krise andauere.
Zusammenfassend lasse sich festhalten, dass ein effizientes WWU-AV System bereits mit einem relativ niedrigen Gesamtaufwand von jährlich 49 Milliarden erzielt werden könne. Insgesamt müsse bei der Ausgestaltung des Systems immer zwischen Umverteilung und Stabilisierung abgewogen werden.
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