Senior Researcher, European Governance and Social Policy, Tilburg University
Dr. Sonja Bekker argumentierte, es sei jetzt die richtige Zeit, um die soziale Agenda der EU zu schärfen und sich nicht mehr nur auf die wirtschaftliche Dimension der Krise zu konzentrieren. Einige Jahre nach Beginn der Krise sehe man nun, dass die bisherigen Lösungen nicht ausreichten, um sowohl wirtschaftlichen als auch sozialen Fortschritt zu erreichen. Bekker zeigte sich jedoch hoffnungsvoll, dass die neue Kommission die sozialen Probleme angehen werde. Sie werde in ihrem Ausführungen nicht nur die Sozialindikatoren im Europäischen Semester analysieren, sondern auch die weiteren Instrumente der EU für die Messung der sozialen Lage einbeziehen und Empfehlungen zur besseren Verknüpfung zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik der EU formulieren.
Das „social scoreboard” als Möglichkeit, die soziale Dimension zu stärken
Die Sozialindikatoren seien 2013 durch die Mitteilung der Kommission zur Stärkung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion WWU (Europäische Kommission (2.10.2013): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat. Stärkung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion. Com (2013) 690 final.) eingeführt worden. Der Einführung habe die Erkenntnis zugrunde gelegen, dass man sich auch um die sozialen Auswirkungen von Reformen kümmern sollte, wenn man eine gut funktionierende WWU haben wolle. Denn Strukturreformen oder Kürzungen der öffentlichen Ausgaben könnten sich auf die Sozialpolitik auswirken, indem beispielsweise der Arbeitsmarkt flexibler werden müsse oder Gesundheits- und Pensionsausgaben gekürzt würden. Beschäftigungspolitische und soziale Probleme sollten durch die Indikatoren zeitnah erkannt und rechtzeitig angegangen werden, insbesondere wenn sie sich auf die soziale Lage in anderen Mitgliedstaaten auswirkten und zu lange andauernden Ungleichgewichten führen könnten. Der Kommissionsmitteilung zufolge solle außerdem die Rolle des sozialen Dialogs gestärkt werden.
Im Rahmen des „social scoreboard“ würden fünf Indikatoren zur Bewertung der sozialen Lage in den Mitgliedstaaten herangezogen:
- die Arbeitslosenquote,
- die Jugendarbeitslosenquote und der Anteil der NEETs (junge Menschen, die weder in Arbeit noch in Ausbildung sind),
- das frei verfügbares Einkommen der privaten Haushalte,
- die Armutsgefährdungsquote,
- die Ungleichheitsrate (S80/S20). (Das S80/S20 Verhältnis setzt die Einkommen der obersten 20% der Bevölkerung in Relation zu jenen der untersten 20%.)
Wichtig sei zu erwähnen, dass neben diesen Hauptindikatoren weitere detaillierte, qualitative Messungen beschäftigungs- und sozialpolitischer Entwicklungen erfolge. Denn diese Hauptindikatoren seien nicht ausreichend, um die soziale Lage innerhalb eines Landes wirklich festzustellen.
Das „social scoreboard”: Bewertung und erste Ergebnisse
Das „social scoreboard“ sei 2014 erstmals im Rahmen des Europäischen Semesters (Das Europäische Semester wurde 2010 eingeführt. Ziel ist, dass die Mitgliedstaaten ihre haushalts- und wirtschaftspolitischen Pläne vorab mit den EU-Institutionen und den anderen Unionsländern abstimmen. Die Kommission misst neben den neuen Sozialindikatoren mit zahlreichen Indikatoren die wirtschaftspolitische Lage in den einzelnen Ländern. Das Europäische Semester umfasst regelmäßige Jahreswachstumsberichte und länderspezifische Empfehlungen der Kommission, die dann vom Rat angenommen werden. Auf diese Weise werden den Staaten bei der Erstellung ihrer Haushaltsentwürfe haushalts- und wirtschaftspolitische Leitlinien vorgegeben. Es wird erwartet, dass sie die Empfehlungen befolgen.) erhoben worden. Dies trage Bekker zufolge dazu bei, den sozialen Aspekten eine größere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Jedoch würden die Ergebnisse von Erhebungen zu sozialen Problemen beispielsweise auch im Gemeinsamen Beschäftigungsbericht veröffentlicht, der Teil der beschäftigungspolitischen Koordinierung sei. Soziale Indikatoren seien also schon zuvor gemessen worden. Neu sei jedoch ihre Einbeziehung in das Europäische Semester, dessen Ergebnisse in die Gespräche der nationalen Beschäftigungs- und Sozialminister eingingen. Sie dienten aber vor allem als Grundlage für die länderspezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommission für die verschiedenen EU-Staaten.
Die erste Auswertung der Sozialindikatoren in 2014 habe erschreckende soziale Entwicklungen in vielen Mitgliedstaaten sichtbar gemacht, wie steigende Arbeitslosenquoten und Armutsgefährdungsquoten. Besonders deutlich trete die wachsende Ungleichheit zwischen den EU-Staaten hervor, die sich vor allem in einer Kluft zwischen nord- und südeuropäischen Ländern manifestiere. (Europäische Kommission (2.6.2014): Mitteilung der Kommission: Europäisches Semester 2014: Länderspezifische Empfehlungen. Wachstum schaffen. COM (2014) 400 final.)
Bekker präsentierte die Entwicklung des frei verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte im Zeitraum zwischen 2002 und 2012, ausgewertet nach verschiedenen Staatengruppen (Abbildung 4), als weiteres Beispiel für die Indikatorenmessung. Seit 2010 bestehe hier ein besonders negativer Trend bei den Eurostaaten im Süden und der Peripherie im Vergleich zu anderen Staatengruppen, bei denen die Entwicklung seit 2009 einigermaßen stabil sei. Auch für die anderen Sozialindikatoren könne eine solche ungleiche Entwicklung beobachtet werden.
Die Messung der sozialen Lage in den Mitgliedstaaten durch die Einbeziehung in das Europäische Semester sei jedoch nur ein erster Schritt, so Bekker weiter. Es gebe neben der Messung der Sozialindikatoren konkrete Maßnahmen der EU, wie die bereits diskutierte Jugendgarantie.
Instrumente zur Messung der sozialen und beschäftigungspolitischen Entwicklungen
Bekker ging anschließend detaillierter auf Messung und Bewertung der sozialen und beschäftigungspolitischen Entwicklungen in der EU ein. Die am Ende des Europäischen Semesters stehenden länderspezifischen Empfehlungen beruhten auf unterschiedlichen Koordinationsmechanismen und Rechtsgrundlagen. (Für das Europäische Semester in 2013 hat Bekker die unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen und Koordinationsmechanismen ausführlich analysiert, vgl. Bekker, Sonja (2014): EU Economic Governance in Action: Coordinating Employment and Social Policies in the Third European Semester. Legal Studies Research Paper Series. Tilburg Law School (2014) 14. Online unter: http://ssrn.com/abstract=2439254 (Stand 25.11.2014).)Dazu gehörten der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), das 2011 eingeführte Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten („Macroeconomic Imbalance Procedure“, MIP) sowie die beschäftigungs- und sozialpolitische Strategie, zu der die Messung der beschriebenen fünf Sozialindikatoren gehöre. Letztere sei jedoch dem soft law der EU zuzurechnen. Bei den anderen beiden Koordinationsmechanismen würden aber auch Indikatoren gemessen, die sich auf ähnliche Aspekte bezögen. Beim SWP liege der Schwerpunkt zwar bei der Wirtschafts- und Fiskalpolitik, doch gebe es beispielsweise auch Empfehlungen zu strukturellen Reformen der Renten- und Gesundheitssysteme einzelner Staaten. Aus einer fiskalpolitischen Perspektive würden auch wichtige sozialpolitische Aspekte aufgegriffen.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen bewertete Bekker nicht als durchgehend negativ für die soziale Dimension der EU. So gebe es beispielsweise für einzelne Staaten sinnvolle Empfehlungen zur Kostenreduktion im Gesundheitssystem. Die MIP ziele darauf, makroökonomische Ungleichgewichte in den Mitgliedstaaten zu beobachten und zu vermeiden, und zwar präventiv (soft law), aber auch korrektiv (hard law), indem Eurostaaten bei Nichtbefolgung der Empfehlungen finanzielle Sanktionen bis zu 0,1 % des Bruttoinlandsproduktes drohten. In der MIP werde jeder Staat anhand von 11 Indikatoren und dazugehörigen Schwellenwerten bewertet, dazu gehöre mit der Arbeitslosenrate auch ein „sozialer“ Indikator. Die länderspezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommission würden also auf der Basis verschiedener Indikatorenmessungen unterschiedlicher Koordinationsmechanismen erstellt und diese beinhalteten auch soziale Aspekte.
Länderspezifische Empfehlungen zu den Löhnen in Deutschland von 2011 bis 2014
Bekker erläuterte einzelne Empfehlungen der Europäischen Kommission für Deutschland zum Thema Löhne im Zeitraum 2011 bis 2014 als Beispiel für länderspezifische Empfehlungen. (Die länderspezifischen Empfehlungen 2011-2014 für einzelne Staaten sind online abrufbar unter: http://ec.europa.eu/europe2020/making-it-happen/country-specific-recommendations/index_de.htm (Stand 25.11.2014).) Sie wollte damit deutlich machen, dass soziale Aspekte schon länger Teil der Koordinationsinstrumente der EU sind. Die Kommission habe z.B. gefordert, dass Deutschland Bedingungen schaffen solle, damit Löhne in Abhängigkeit von der Produktivität ansteigen. In den aktuellen Empfehlungen 2014 habe die Kommission wie schon 2013 gefordert, dass die inländische Nachfrage gesteigert werden solle, in dem hohe Steuer- und Sozialabgaben insbesondere für Niedriglöhner gesenkt werden. Bei den Empfehlungen für Deutschland 2011-2013 habe es sich jedoch um soft law gehandelt, bei denen für 2014 seien sie Teil einer vertieften Analyse im Rahmen der MIP.
Politikempfehlungen für die Zukunft der sozialen Dimension
Bekker schloss ihren Beitrag mit Empfehlungen für eine zukünftige Politik. Man müsse sich fragen, wie die sozialen Auswirkungen von Krisenreformen wirklich vermieden und wie ein guter Ausgleich zwischen sozialen und ökonomischen Zielen geschaffen werden könne. Dazu sollte analysiert werden, wie soziale Aspekte intelligentes und nachhaltiges Wachstum förderten.
Die Sozialpolitik und die Wirtschaftspolitik seien eng miteinander verbunden. Empfehlungen aus der ökonomischen und fiskalpolitischen Überwachung könnten daher soziale Auswirkungen haben, und umgekehrt. Den nationalen Regierungen müsse klar sein, dass sie mit der Verbesserung der sozialen Lage gleichzeitig auch die finanzielle Seite verbessern. Bei Auflagen der Troika zu Haushaltskürzungen sollte dafür gesorgt werden, dass ein Staat noch genügend Reserven habe, um seine sozialen Aufgaben erfüllen zu können.
Es sollten Messinstrumente entwickelt werden, die sich präventiv mit der sozialen Situation einzelner Bevölkerungsgruppen auseinandersetzten, und es solle vermieden werden, dass zu spät reagiert werde. Viele Staaten kümmerten sich beispielsweise erst dann, wenn sie bereits ein großes Armutsproblem hätten. Die Problembehandlung sollte früher erfolgen und nicht erst dann, wenn die Probleme akut aufträten. Beispielsweise könnte der Übergang von einem Arbeitsplatz in einen neuen Job besser gefördert werden. Außerdem sollten für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit spezielle regionale Lösungen entwickelt werden. Dazu solle die regionale Nachfrage der Unternehmen nach speziellen Arbeitskräften beachtet werden. Die Bevölkerung solle insgesamt widerstandsfähiger gegen Arbeitsmarktkrisen gemacht werden.
Bekker empfahl darüber hinaus, eine intelligente Kombination der verschiedenen Koordinationsmechanismen zu nutzen. Es sei wichtig, dass die einzelnen Instrumente nicht in Konkurrenz zueinander stünden, sondern ergänzend genutzt würden. Von den unterschiedlichen Vorzügen der Koordinationsverfahren sollte möglichst umfassend Gebrauch gemacht werden. Der bestehende rechtliche Rahmen gebe zudem eine Zielvorgabe. So bestimme Artikel 9 AEUV, dass Maßnahmen der EU der Förderung sozialer Ziele dienen sollten, wie z.B. einem hohen Beschäftigungsniveau. Dies müsse bei wirtschaftspolitischen Maßnahmen beachtet werden.
Auch die Vorzüge der Offenen Methode der Koordinierung, also des soft laws der EU, müssten mehr beachtet werden. Sie ermögliche übergreifende Zielvorgaben für die gesamte EU, überlasse es aber den Mitgliedstaaten zu entscheiden, wie diese Ziele erreicht und welche Lösungsstrategien entwickelt werden. Die EU sollte nicht Lösungen entwickeln, die gleichermaßen auf alle Staaten anzuwenden wären. Vielmehr gehe es darum, für das jeweilige Land bzw. die jeweilige Region passende Lösungswege zu fördern (bottom-up-approach). Auch die Sozialpartner und zivilgesellschaftliche Organisationen sollten eingebunden werden. Bekker betonte insgesamt die Vorzüge des soft law in Form der Offenen Methode der Koordinierung.
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