
Antisemitismus geht uns alle an
Diskussion in der Landesvertretung Berlin zu Faktoren und Interventionsmöglichkeiten
Moderiert von Shelly Kupferberg diskutierte der nordrhein-westfälische Staatssekretär für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration Erscheinungsformen des heutigen Antisemitismus in Deutschland. Abraham Lehrer, Vizepräsident Zentralrat der Juden in Deutschland, wusste davon zu berichten, dass die antisemitische Bedrohung eine wieder alltägliche Lebenssituation nicht nur in den Jüdischen Gemeinden Nordrhein-Westfalens sei. Die exemplarischen Vorfälle, die von der Diskussionsrunde benannt wurden, konnte Alexander Rasumny von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus e.V. entsprechend der Datenerhebungen auch für Berlin bestätigen, betonte aber zugleich, dass das Meldesystem noch viel weiter ausgebaut werden müsse, um nicht nur strafrechtlich relevante Tatbestände zu erfassen und damit detaillierte Einschätzungen sowie Lagebilder zu antisemitischen Ausdrucksformen zu erlangen. Antisemitische Stereotype und Verschwörungstheorien seien oft völlig unreflektiert bei muslimischen Jugendlichen anzutreffen, so der Psychologe Ahmad Mansour mit arabisch-israelischen Wurzeln, Antisemitismus sei aber ein gesamtgesellschaftliches Problem und nicht alleine in den islamischen und islamistischen Bereich abzustellen. Dr. Samuel Salzborn, Gastprofessor am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, machte klar, dass sich zwischen rechten, linken und islamistischen Gruppierungen antisemitische Allianzen gebildet hätten, die vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen seien. Dabei richte sich der Antisemitismus gegen Errungenschaften der Moderne wie Demokratie, Freiheit, Aufklärung und damit nicht nur gegen Juden und Jüdinnen, sondern gegen die freiheitlichen Gesellschaften an sich.
Ausstellung zum Antisemitismus
Die Diskussion fand anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „»Du Jude!« – Alltäglicher Antisemitismus in Deutschland“ statt. Die von der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. konzipierte und von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen geförderte Ausstellung ist in der Landesvertretung bis zum 9. Oktober 2019 zu sehen. In Zusammenarbeit mit den BildungsBausteinen e.V. Berlin werden in diesem Zeitraum Workshops und pädagogische Führungen für Jugendliche, Schülerinnen und Schüler aus Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen angeboten. Nach Ausstellungsende geht die Ausstellungseinheit in den Besitz der Kölnischen Gesellschaft über, um als pädagogisches Werkzeug an Schulen in Nordrhein-Westfalen zum Einsatz zu kommen.
Antisemitismus in der Lebenswelt Jugendlicher
In einer zweiten Diskussionsrunde schilderten Dr. Aaron Eckstaedt, Schulleiter des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn in Berlin, und Tamara Guggenheim, Koordinatorin der Jüdischen Religionslehre der Jüdischen Gemeinden Nordrhein, dass jüdische Bildungsorte und -angebote wieder vermehrt zu Schutzräumen für jüdische Schülerinnen und Schüler werden, die andernorts immer extremeres antisemitisches Mobbing erfahren müssen. Erschreckend sei das Gefühl des Alleingelassenseins der Betroffenen und die teilweise Hilflosigkeit der Lehrerinnen und Lehrer. Dr. Julia Bernstein, Professorin an der Frankfurt University of Applied Sciences, betonte die Wichtigkeit des gemeinsamen Gesprächs und des alltäglichen Sich-Kennenlernens ohne artifizielle Begegnungssituationen. Was ihn für die antisemitischen Anfeindungen in der deutschsprachigen Hip-Hop- und Rapszene entschädige und hoffen lasse, seien genau solche Gespräche auf Augenhöhe mit Schülerinnen und Schülern, berichtete auch der Rapper und Buchautor Ben Salomo. Marina Chernivsky, Leiterin Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment ZWST verwies darauf, dass alle Interventions- und Empowermentkonzepte existieren würden. Sie müssten aber nicht nur von außen, sondern auch systemisch von innen entwickelt und angewendet werden. Die Diskutanten und Diskutantinnen waren sich einig, dass alle Jugendlichen, die sich noch nicht extremistisch radikalisiert haben, mit entsprechenden Methoden erreichbar seien. Die Ursachen für den Antisemitismus junger Menschen lägen zumeist bei den älteren Generationen: in tradierten Ideologien, in einer mangelnden Hinterfragung der eigenen Familiengeschichte, in einem Versagen der Bildungssysteme und Schulaufsichten sowie in dem brüllenden Schweigen von Politik und Gesellschaft gegenüber der „wiederentdeckten Normalität“ des Antisemitismus in Deutschland.